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Der zweite Band zu "Die Prophezeiung. Das Inferno von Little Germany, New York"
Leseprobe:
Montag, 28.05.1984
Der
Schrei hallte lang und geisterhaft durchs Haus. Lillie schreckte hoch und
starrte in die Dunkelheit. Es war nicht das erste Mal, dass dieses Geheul durch
den Flur drang, das Treppenhaus flutete und bis in Lillies Schlafzimmer im
Obergeschoss vorstieß. Lillie saß mit klopfendem Herzen in ihrem Bett und
lauschte in die Nacht.
Jetzt blieb es still. Nur ihr Herz machte sich weiterhin
bemerkbar. Poch. Poch. War der Schrei ihrem Traum entsprungen? Hatte es ihn gar
nicht gegeben? War es nun so weit, dass sie bereits von Oma Gretas Geheul träumte
und davon erwachte? Lillie horchte noch einen Augenblick ins Dunkel der Nacht, bevor
sie zurück auf ihr Kopfkissen sank und die Anspannung sich langsam von ihr
löste.
Sie zuckte zusammen, als Gretas Wehruf erneut das Haus
flutete. Diesmal hörte Lillie weitere Geräusche. Sie drangen von der unteren
Etage zu ihr hinauf. Schritte und Türengeklapper. Mutti war aufgestanden.
Lillie schlug die Bettdecke zurück. Die Stimmen dort unten wurden lauter,
nötigten Lillie dazu, schnell aus dem Bett zu springen und mit nackten Füßen
die Treppe herunterzuhechten. Es war nicht gut, wenn Ruth und ihre Großmutter
aneinandergerieten. Und das kam immer häufiger vor in der letzten Zeit. Viel zu
häufig, dachte Lillie und stürmte ins Zimmer.
„Mutti!“ Lillie stürzte zum Bett. „Lass Oma los!“
Obwohl Greta ihre Uroma war, nannte Lillie sie stets
‚Oma‘. Schon als Kleinkind hatte sie die Bezeichnung ‚Oma Greta‘ immer wieder
inhaliert und selbst hervorgebracht. Zur Belohnung gab‘s ein lachendes
Oma-Gesicht und einen Riegel Mars oder Raider. Das war ein fester Kitt für ihre
Beziehung, und Greta und Lillie hingen aneinander wie in der Sonne
geschmolzenes Maoam am Bonbonpapier. Es war Oma Greta gewesen, die jeden Tag
auf sie aufgepasst, mit ihr gespielt und ihr das Schnürsenkelbinden beigebracht
hatte. Und sie war trotz ihres bereits damals hohen Alters noch erstaunlich fit
gewesen. Bewundernswert fit, wie alle beteuerten.
Lillie war stolz gewesen, weniger auf ihre gut erhaltene
Oma als vielmehr auf die perfekten Schlaufen an ihren Füßen. Sie war vier, als
sie das Binden gelernt hatte. Seitdem hatte sie über achtzig weitere Arten von
Knoten zu beherrschen gelernt. Damals hatte sie begonnen, sämtlichen Gästen,
die Oma Greta zum Nachmittagskaffee einlud, die Schnürsenkel loszumachen. Sie
kauerte erwartungsvoll unter dem Tisch und wenn der Besuch von der Kaffeetafel
aufstand, stellte er mehr oder weniger verwundert fest, dass im Hause von Greta
Rosenstein die Schleifen jegliche Festigkeit verloren, sodass sie schlaufenlos
herabhingen. Lillie war dann zur Stelle und half gerne aus, was man ihr
wiederum mit lobenden Worten dankte.
Das war damals gewesen. Da hatte Oma Greta noch bei
ihrem Sohn Heinrich gelebt, der seine Frau bereits früh verloren hatte. Seine
Tochter Ruth wohnte zu dem Zeitpunkt mit ihrer Tochter Lillie in der kleinen
Stadtwohnung. Lillies Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, als Lillie noch
ein Baby war. Lillie hatte ihn nie vermisst. Sie hatte ja ihre Oma Greta.
So hätte es eigentlich bleiben sollen. Doch das Leben
hatte manchmal andere Pläne. Und hin und wieder durchkreuzten sie das schön vor
sich hin plätschernde Leben mit der Wucht einer alles wegreißenden Welle.
Heinrich war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen
und seitdem bewohnte Greta das kleine Häuschen mit dem großen Garten ganz
alleine. Bis es einfach nicht mehr ging und sie bei Ruth und deren
Lebensgefährten Gerd einzog. Zum Glück war jetzt Lillie wieder in ihrer Nähe.
„Mutti!“ Lillie hob ihre Stimme noch ein wenig an. „Lass
Oma los!“
„Halt du dich da raus!“ Ruth schaute nur kurz ihre
Tochter an und drückte weiterhin die Hände von Oma Greta auf das weiße
Kopfkissen, während die alte Frau mit verzerrtem Gesicht und weit aufgerissenen
Augen dagegen ankämpfte. „Die dreht mal wieder völlig durch“ schimpfte Ruth,
ließ aber langsam Gretas Handgelenke los.
Lillies Gesicht tauchte im Blickfeld von Oma Greta auf.
Sofort entspannten sich ihre Muskeln und sie blieb liegen.
„Ich halte das bald nicht mehr aus.“ Ruth wendete sich
ab und ging zum Fußende des Bettes. Lillie hatte es trotzdem gesehen. Eine
Träne hatte sich aus Mutters Augenwinkel geschlichen.
Lillie setzte sich auf den Bettrand und streichelte Oma
Gretas Handrücken. Ruth blieb am Bettenende stehen, zupfte noch einmal das
Bettlaken zurecht, atmete tief durch und drehte sich nochmals zu Lillie.
„Komm“, sagte sie, „lass uns weiterschlafen. Es ist zwei
Uhr. Ein paar Stunden haben wir noch.“
Lillie nickte und Ruth verließ das Zimmer.
„Oma. Alles in Ordnung?“, fragte Lillie leise und
hoffte, dass Greta sie verstand. Mit ihren 94 Jahren war das Gehör nicht mehr
darauf eingestellt, alles mitkriegen zu wollen.
Greta nickte und Lillie lächelte. Dann aber, als sie
aufstehen wollte, griff Greta blitzschnell nach Lillies Hand. Lillie erschrak,
gab aber dem leichten Druck von Oma Gretas Griff nach und beugte sich zu ihr
nach vorne.
„Ich hab‘ dich gesehen.“ Es war nur ein Flüstern, kaum
zu verstehen. „Du warst da. Du kannst sie retten.“ Die Stimme klang merkwürdig
geheimnisvoll. Lillie bekam eine Gänsehaut.
„Wen kann ich retten, Oma?“
„Alle. Du musst hingehen. Versprichst du mir das?“ Oma
Gretas Augäpfel traten weit hervor. Lillies Härchen an den Armen plusterten
sich noch weiter auf. Die dünnen Finger von Oma Greta bohrten sich in Lillies Haut.
Ein letztes Flehen lag in ihrem Blick und Lillie spürte wieder diese Angst vor
dem Tag, wenn ihre Oma von ihnen ginge. Sie wusste, dieser Tag würde kommen, in
nicht allzu ferner Zukunft. Lillie entfernte mit sanftem Druck Omas Hände von
ihrem Arm und sagte: „Klaro, Oma, mach ich.“
„Versprich es.“ Es lag so viel Schmerz in Omas Blick.
„Ich verspreche es“, sagte sie und stand auf. „Du musst
mir nur noch sagen, wohin.“ Lillie schenkte Oma ein Lächeln, doch Greta hatte
sich bereits ins Kissen zurücksinken lassen und die Augen geschlossen.
Mit leisen Schritten verließ Lillie den Raum.
Als sie im Bett lag, kreisten ihre Gedanken um das, was
ihre Uroma gesagt hatte. Und vor allen Dingen um das, was Lillie geantwortet
hatte. Da hatte sie einfach „Klaro“ gesagt, dabei war nichts klar. Was hatte sie
soeben Oma Greta versprochen? Wen sollte sie retten? Lillie hatte da so eine
Ahnung. Und darum ärgerte sie sich umso mehr über ihre leichtfertig
dahingeworfene Antwort. Denn wenn Oma Greta das meinte, was Lillie ahnte, dann
war es unmöglich für Lillie, etwas zu tun. Und jetzt hatte sie es versprochen.
Wenn Lillie etwas hasste, so waren es Versprechen, die
nicht eingehalten wurden. Sie hatte kein Problem damit, wenn jemand im Geschäft
eine Kleinigkeit in seiner Jackentasche verschwinden ließ, schließlich
passierte ihr das selbst oft genug. In diesem Bereich war ihr Schuldgefühl
leider nicht so ausgeprägt. So ’ne Kleinigkeit ’nem Bonzen abzunehmen,
bedeutete für den doch eigentlich so gut wie gar keinen Schaden, dachte sie. Und
für sie beinhaltete das den Nervenkitzel, den sie zum Leben brauchte. Sie hing
daran, an diesem ‚Sport‘, wie andere an ihrem Glimmstängel. Jeder brauchte so
seinen Joint. Sie kannte das von Gerd. Ihrer war das Stehlen. Und sie war gut
darin. Noch nie war sie erwischt worden.
Etwas anderes war es, wenn man etwas zusicherte und
nicht einhielt. Das ging gar nicht. Und erst recht nicht gegenüber ihrer Oma,
die ihr so nahe stand wie kein anderer. Aber es war nur zu Omas Bestem gewesen,
dass sie ihr etwas versprach, was sie nicht halten konnte. Sonst hätte sie sich
überhaupt nicht beruhigen können. Und Omas Herz war bestimmt nicht mehr das
Beste … Und trotzdem konnte Lillie es nicht verhindern, dass ihr Magen sich
deswegen zusammenzog. Wenn Lillie richtiglag, hatte Oma eben mal wieder von dem
Unglück geträumt, das ihr und ihrer Familie und so vielen Freunden, Verwandten
und Bekannten vor langer Zeit in Little Germany, New York, widerfahren war.
Lillie mochte sich gar nicht vorstellen, wie es gewesen
sein musste. Sie alle aus der Kirchengemeinde St. Marks hatten sich auf diesen
Tag gefreut, auf den fünfzehnten Juni neunzehnhundertundvier. Der Tag, an dem
der Abschluss des Schuljahres der Sonntagsschule von St. Marks wie jedes Jahr
mit einem Ausflug gefeiert werden sollte. So viele Familien, Mütter und Kinder,
die sich wie hulle auf diesen einen Tag freuten und deren größte Sorge war, ob
das Wetter auch mitspielte.
Und dann das … Eine halbe Stunde nachdem der
Ausflugsdampfer „General Slocum“ von Pier East Third Street auf dem East River
abgelegt hatte, brach das Feuer aus. Von den über 1.300 Ausflüglern lebten
abends keine dreihundert mehr. Lillie zog die Bettdecke fester um sich. Sie
versuchte, ihre Gedanken in andere Richtungen zu lenken. Sie würde das Unglück
nicht ungeschehen machen können.
Warum nur träumte Oma Greta in der letzten Zeit
andauernd von dieser Katastrophe? War es, weil das Inferno sich bald zum
achtzigsten Mal jährte? Oder war es, weil sie nie darüber sprach? Lillie hatte
gelesen, dass Unausgesprochenes sich seinen Weg durch Träume nach draußen
bahnt. Lillies Herz schlug schneller. Das war es. Sie musste Oma Greta zum
Reden bringen. Sie musste über das Unglück sprechen. Nur so könnte sie es
loswerden. Wenn sie das nicht tat und die Träume blieben, dann … Lillie mochte
den Gedanken gar nicht zu Ende denken, doch sie wusste sehr wohl, was Ruth
damit andeuten wollte, als sie eben „Ich halte das hier bald nicht mehr aus!“ sagte.
Sie wusste, dass ihre Mutter am Ende ihrer Kraft war. Den ganzen Tag arbeiten
und noch Oma versorgen, das war nicht einfach.
Ob sie morgen mal mit Alex darüber reden sollte? Auf jeden Fall musste Lillie ihre Oma
zum Reden bringen. Unbedingt.
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